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Tour de France

 

 

Sie war gerade mal

sechs Jahre älter als ich,

die Frau, die gestern

von einer Straßenbahn

überrollt wurde.

 

Bis ich vor kurzem

mir endlich wieder

ein Auto zulegte,

fuhr ich mit derselben

Straßenbahnlinie

immer in die Stadt.

Einmal stieg abends einer ein,

schwer angeschlagen,

mit hellen, vollgeschissnen Leinenhosen.

Er stank entsetzlich.

Der Fahrer sah weg,

als sich zwei Rentnerinnen

darüber beschwerten.

 

Mit einer Toten

unter seinem Triebwagen

musste der Straßenbahnfahrer

dieses Mal seine Route vorübergehend

unterbrechen.

 

Ich las das mit der Frau

eben in der lokalen Zeitung.

In der Spalte daneben stand,

dass dreißig Kilometer von hier

eine Wolfsfamilie gesehen wurde,

die vermutlich aus Polen

hinüber in die Wälder

diesseits der Neiße kam.

 

Und Jan Ullrich konnte

gestern bei der Tour de France

das gelbe Trikot nicht halten.

Aber das hatte ich

schon im Fernsehen gesehen.

 

Totgefahrene Mittdreißigerin,

besudelte Leinenhose,

reviersuchende Wölfe ...

Wenn ich jetzt gleich

schlafen gehe,

wird mein Unterbewusstsein

das alles hoffentlich

einordnen unter der Rubrik

„Kann man wieder vergessen“.

 

Ich wünsche mir,

dass mir dann ein Traum kommt,

in dem ich mit einem leise

surrenden Leichtmetall-Rennrad

dem hetzenden Elite-Fahrerfeld

der Tour de France

entkommen kann

und diesen Ausreißversuch

lässig, überlegen, souverän,

getragen von meinem unsterblichen Mythos

ins Ziel bringe.

 

Genug zum Frieden schließen,

mit mir selbst,

für ein paar Stunden.

 

 

 

Wo bleibt mein Sturm?

 

 

Stürbe ich heute

weil ich vielleicht

das Ende vom Stau

übersehen

habe

(oder

wollte).

Oder weil ein Karzinom

nicht davon lassen konnte,

mich zu vernichten:

Was bliebe dann?

 

Es reicht.

Ich male mir

das nicht mehr länger aus.

 

Auch wenn aus mir

nie ein Kamikaze-Flieger wird,

ab heute hänge ich

meine Segel in den Wind!

 

 

 

Der letzte Rest von Zuversicht

 

 

Sekunden bäumen sich

zu mächtigen Minuten auf.

Sie rotten sich zusammen

zu überlebensgroßen Stunden.

Und wenn sie endlich

- ewig kopulierend –

die Tagesgrenze sprengen,

ist ihr Aufmarsch

nicht mehr aufzuhalten.

Ich krieg sie

einfach nicht zu fassen.

Greife ich in ihre Mitte,

stieben sie davon

wie Fetzen eines

Luftballons der platzt.

Statt Unsterblichkeit

nur lauer Wind.

Doch ein paar von ihnen

werden mir

früher oder später

nicht entrinnen können.

Und dann werde ich

sie gnadenlos zerquetschen

wie Harmstorf damals

die Kartoffel.

 

Als danach nichts mehr

richtig lief für ihn,

hat Harmstorf

sich erhängt.

 

Ich dagegen

vertraue Andy Warhol:

Jeder hat

ein Mal in seinem Leben

fünfzehn Minuten

um die Kurve zu kriegen.

 

Meine kommen noch.

Und das ist das Entscheidende.

 

 

 

Wunsch

 

 

Ein weitrer Tag seit der Geburt

bringt uns nur einen weitren Tag

näher unsrem Grab.

Unsere leeren müden Schädel

schlagen aneinander,

vor und nach dem Tod:

so oder so -

wir merkens nicht.

 

Wer schon mal

eine Psychiatrie

von innen sah,

(egal auf welcher Seite

des Besuchertisches,)

dem kam vielleicht die Frage auf,

wer denn die hoffnungslos Verlornen sind:

die eingesperrten Seelen,

mit ihren schreienden innren Stimmen,

die sie da behandeln

oder jene, die sie dort

besuchen gehen?

Die einen sind einfach nur

kaputt gespielt

und weg vom Fenster.

 

Die andern habens bloß

noch nicht begriffen,

dass ihre Lebensläufe

Tag für Tag im Gleichschritt

nebenander herlaufen,

hinaus ins Nichts;

dass ihre täglichen Routine-Handgriffe

nichts anderes sind,

als Endlos-Wiederholungsschleifen

und dass das, was ihnen

an Natürlichem seit dem

Kindsein alles so abhanden kam,

für immer weg ist.

 

Manchmal neige ich dazu,

unsrem Versagen zu vergeben.

Heute aber verstopft

der Rotz mir meine Nase,

ich heule Wasser,

nicht viel weniger,

als ich als Bier

mir wieder zuführen kann.

Ich heule weil ich voller Wut bin,

über uns,

über mich,

über dich,

über ...

sonst was.

 

Der Abgesang

ist kaum noch aufzuhalten.

 

Wir zetteln keine

Revolution mehr an.

Ich sehe auch ein,

die Zeiten sind vorbei

für so was.

 

Aber ich will nicht

jeden Tag aufs Neue

Stück für Stück

nur sterben

bis zum Tod.


ohoa
ohoa@ohoa.de