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Moanin' Blues

 

Vor genau einem Jahr hatte ich alles hingeschmissen, das heißt eigentlich schon vorher – nur das eben das „neue Leben“ zu diesem Zeitpunkt ultimativ seinen Lauf zu nehmen begann.

Den Korken der letzten Flasche Sekt „in Freiheit“ trug ich seither fast immer mit mir rum – als Hoffnung auf bessere Zeiten.

Ich war fast 30 Jahre alt, hatte immer im Hinterkopf, bisher keinen Berufsabschluss zustande gebracht zu haben. Jetzt wollte ich es wissen. Die insgesamt drei Jahre dauernde Ausbildung bestand zur Hälfte aus knüppelhartem Studium. Knüppelhart zumindest für mich, da ich das Gefühl nicht loswurde, dass mir die ganze Plackerei viel schwerer fiel als anderen. Die andere Hälfte bestand aus praktischer Arbeit in dem neuen Job und zuletzt hatte ich drei Monate dieser Praxis hinter mir. Es folgten fast vier Wochen Urlaub – ohne weg zu fahren, weil das Geld nicht reichte. Schließlich kam der Tag, an dem der längste Theorie-Abschnitt des Studiums begann. Sieben Monate Theorie standen mir bevor.

Nach meiner Anreise an den Ort, der auch im Vorjahr schon Stätte meines Leidens war, richtete ich mir zuerst mein Zimmer im Wohnheim ein. Kein Möbelstück blieb am Platz. Mehrmals rückte ich alles hin und her, bis ich mich einigermaßen mit der Anordnung anfreunden konnte. Ich kaufte ein paar Pflanzen und wechselte die Glühlampen aus. Ans Bett kam eine schwächere als vorher und am Schreibtisch eine mit Spot-Effekt. Die Putzfrauen beschwerten sich lauthals über mein eigenmächtiges Möbelrücken und darüber, dass die Pflanzen keine Übertöpfe oder einen Teller drunter hatten. Für sie war das von enormer Wichtigkeit. Also stellte ich Teller drunter, aus Porzellan. Die Möbel rückte ich aber nicht wieder an ihre alten Plätze.

Bereits nach drei Tagen war ich von den Dozenten mit umfangreichen Hausaufgaben eingedeckt. Nicht nur ich, aber ich war damit mehr in der Bedrouille als andere. Nachdem ich nachmittags gekonnt die Zeit mit einkaufen, Kaffee trinken und anderen Wichtigkeiten hinter mich brachte, blieb schließlich nur noch eins, um das Sich-an-die-Arbeit-Machen hinaus zu zögern: Zeitung lesen. Der täglich wiederkehrende Kram: „Papst sagt Paris-Besuch ab“, „Britta ist schüchtern, aber ihre beste Freundin durfte sie fotografieren“, „ Kommt die Öko-Steuer?“ ... Ich las die Überschriften, das Meiste interessierte mich nicht. Eine kleine Überschrift verriet: „Eve-Marén – das neue TV-Gesicht“. Unbewusste Hirn-Schaltgänge setzten ein. Ergebnis: Den Namen Eve-Marén gibt es selten, ich kenne eine Eve-Marén, ich muss den Artikel lesen. Und da stand es. „Neue Moderatorin bei TV-Sender XYZ – ehemalige Kosmetikerin aus Cottbus – täglich zwei Mal kurz auf Sendung ...“ Mein Puls kam in Wallung, mein Hirn arbeitete weiter: Eve-Marén! Kleine Informationen fügten das Bild zusammen. Vor fünf Jahren war ich mit ihr durch die Diskos gezogen. Auf einer Party hatten wir uns vorher kennen gelernt. Später war sie mal mit einer Freundin am Wochenende bei mir. Sie wollte unbedingt meine Lieblings-Disko erleben, weil sie schon viel von dem Laden gehört hatte. Nach dem Abend damals überredete sie mich noch, mit ihr und ihrer Freundin zusammen in dem großen Bett zu schlafen. Aber ich traute mich nicht, sie anzufassen. Sie war perfekt und ich bekam nie perfekte Frauen. In dieser Nacht machte ich kein Auge zu. Später gab es nie wieder eine Gelegenheit sie rumzukriegen. Jedenfalls keine Gelegenheit, die ich in der Lage gewesen wäre, zu nutzen. So blieb alles freundschaftlich. Für ihre praktische Prüfung als Kosmetikerin hatte sie mich ausgesucht, um der Prüfungskommission zu beweisen, dass sie ihr Handwerk in Sachen Nacken-Massage ausgezeichnet verstand. Zuvor durfte ich diese 40-Minuten-Wohltat zwei Mal über mich ergehen lassen. Sie musste schließlich üben! Dabei hatte ich immer die ganze Zeit eine Erektion. Sie merkte davon nichts, weil ich meine Hemden meistens über der Hose trage.

Bei der Prüfung später hatten die anderen angehenden Kosmetikerinnen alle ihre beste Freundin mit zur Demonstration der Nacken-Massage. Wir waren also 15 Kosmetikerinnen, 14 beste Freundinnen und ich. Wir Probanden hatten zur Entspannung und aus praktischen Gründen zunächst die Oberkörper frei und saßen vor einer langen Spiegelwand, damit die Prüfer ihren Schützlingen von allen Seiten auf die Finger sehen konnten. Erst später legten wir uns Handtücher um. Bis dahin wusste ich nicht, wo ich zuerst nicht hinsehen sollte. 28 Brüste: große, kleine, abstehende, flache, hängende, spitze, mit hellen oder dunklen Brustwarzen, größeren oder kleinen Warzenhöfen, braun gebrannt oder durch einen Bikini von der Bräune ausgespart ...

Hinterher feierten Eve-Marén und ich noch ein wenig. Sie hatte die Prüfung als beste von allen abgeschlossen.

Danach sah ich sie noch ab und zu. Der Kontakt brach ab, als sie aus Cottbus weg ging. Sie war in meinen Augen immer attraktiv. Nur ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte, dass ihr größter Wunsch damals war, Wolfgang Joop kennen zu lernen. Wir lebten in verschiedenen Welten.

Fünf Jahre war das her. Zurück aus der Erinnerung würde ich gleich mit den Hausaufgaben beginnen (nachdem ich den Rest der Zeitung gelesen und den Eve-Marén-Artikel ausgeschnitten hatte).

Mein Puls war wieder auf Normal-Niveau. Am Wochenende werde ich zu Hause nach den Briefen suchen, die sie mir mal schrieb und ich werde pünktlich um 19.30 Uhr vor dem Fernseher sitzen und mir das neue TV-Gesicht ansehen. Ich werde auch an diesem Wochenende keine ins Bett kriegen, schon gar nicht eine wie Eve-Marén.

Am Montag darauf werde ich wieder über meinen Büchern sitzen, deprimiert sein. Genau das ist der „moanin' blues“, den John Lee Hooker gerade im Radio singt.


ohoa
ohoa@ohoa.de